Wissen wir wirklich nicht mehr, wo rechts und wo links ist?

Von Cornelia Mannewitz

(aus ZivilCourage 43-2023)

Dass „links“ und „rechts“ ihre Bedeutungen verloren hätten, ist eine der Lieblingsbehauptungen von Anhängern der „Mahnwachen für den Frieden“ 2014/15 bis zu denen der Post-Corona-„Montagsdemos“ heute. Es sei ja alles so unbestimmt. Sie liegt auch einem Diskussionspapier der sogenannten „Ukraine-Initiative – Die Waffen nieder“ von August 2023 zugrunde: „Rechtsoffenheit in der Friedensbewegung – Kampfbegriff oder reales Problem?“: https://nie-wieder-krieg.org/2023/08/24/diskussionspapier_rechtsoffenheit/

Was ist denn so unbestimmt? Laut dem Papier begann „mit dem Triumph des Neoliberalismus (…) die traditionelle Links-Rechts-Konfiguration (…) zu erodieren. Mit New Labour – in Deutschland mit Gerhard Schröder als ‚Genosse der Bosse‘ – begann die Entfremdung zwischen Lohnabhängigen und Sozialdemokratie (…). Die soziale Frage, die immer der harte Kern des Begriffs ‚links‘ war, wurde durch den Neoliberalismus zwar enorm verschärft, verlor aber zunehmend ihre Repräsentation im politischen System.“

Das mag sein. Aber hier wird schon deutlich, warum es den Ausdruck „drin, was draufsteht“ gibt: weil es eben oft nicht so ist. Wenn ein Linker rechte Politik macht, ist diese Politik deswegen nicht links, sondern der Linke ist orientierungslos. Oder der Linke nennt sich nur links. Oder er will den Rechten zu Gefallen sein. Auch mit „rechts“ ist es nicht so einfach. Das Papier hat recht, wo es fordert: „Wer heute über ‚rechts‘ redet, steht (…) in der Pflicht, präzise zu sagen, was damit gemeint ist.“ Es hat aber nicht recht mit dem Satz, der diesem vorangeht: „Die relative Kohärenz linker wie rechter Weltbilder befindet sich in Auflösung, und die einstmals eindeutigen Begriffe sind auch innerhalb der jeweiligen Lager umstritten.“ „Weltbilder“ ist hier eindeutig zu hoch gegriffen. Es reicht schon, „rechtsradikal“ zu sagen, wenn man „rechtsradikal“ meint, und nicht bei „rechts“ stehenzubleiben. Allerdings denkt heute, wenn es heißt, jemand sei ein*e Rechte*r, wohl niemand mehr an ein CDU- oder CSU-Mitglied. Von 1987 stammt der Ausspruch von Franz Josef Strauß, rechts von der CDU/CSU dürfe es keine demokratisch legitimierten Parteien geben. Lange her, und in dieser Zeit hat sich entsprechend der gewandelten Parteienlandschaft der politische Gebrauch von „rechts“ gewandelt, nicht aber das Wort selbst.  

Das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus (2015, Band 8/II: „links/rechts“) hilft bei der Unterscheidung von Wortbedeutung und Wortgebrauch: Die Links-Rechts-Unterscheidung kommt aus der Französischen Revolution. In der Nationalversammlung saßen links die Gegner und Kritiker der Monarchie, rechts ihre Befürworter. So wurden die Träger*innen von Liberalismus und Aufklärung auf der einen Seite und von Konservatismus auf der anderen Seite voneinander unterschieden. Der politische Sieg der Bourgeoisie und der Aufstieg der Arbeiterbewegung führte dann, wenig verwunderlich, nicht zum Wegfall einer der beiden Seiten, sondern „links/rechts“ diente nun zur Binnendifferenzierung innerhalb der Seiten. Marx bezeichnet an einer Stelle als „links“ die Industriebourgeoisie und als „rechts“ die Grundbesitzer – sehr vereinfacht gesagt, eine Unterscheidung zwischen weniger Konservativen und Konservativen, die beide zur Rechten zählten. Ähnlich bildete sich bei der Linken mit der kommunistischen Bewegung etwas heraus, was Engels einmal „extreme Linke“ genannt hat. Weiter ging es mit Flügelkämpfen auf der Seite der Linken, in denen „links“ mit „revolutionär“ und „rechts“ mit „reformistisch“ assoziiert wurde. Und ich würde fortsetzen: Weiter ging es über einen staatspolitischen „Mainstream“ (wie man heute sagen würde) innerhalb des als linkes gestarteten Projekts Sowjetunion, zu dessen linker und rechter Seite jegliche Opposition nach Möglichkeit vernichtet wurde, bis … zur Sitzordnung in heutigen Parlamentssälen, wo rechts und links noch immer funktioniert.

Ökonomische und gesellschaftliche Verhältnisse lagen und liegen dem Gebrauch von „links“ und „rechts“ zugrunde, die Wörter dienen auch als Selbstbezeichnung und sind heute ganz in der Politik beheimatet. Aber begründet wird der Gebrauch von „links“ und „rechts“ mit den Bedeutungen dieser Wörter. Diese haben sich kaum gewandelt und jede*r, der*die sie bewusst gebraucht, weiß das auch.

Wem nützt dann die herbeigeredete Unbestimmtheit? Sie nützt dazu, Menschen ins Boot zu holen, die sich nicht als „rechts“ bezeichnen lassen wollen. Anders gesagt, dass man Rechtsoffenheit praktiziert – nicht mehr und nicht weniger. In der Interpretation des Papiers dagegen ist der Begriff „Rechtsoffenheit“ der „Nährboden für eine Unkultur permanenter Verdächtigung und Denunziation, befeuert von selbsternannten Tugendwächtern“. Was das Papier über seine Gegner behauptet, nämlich, dass sie Begriffe nicht definieren und nur politische Prinzipien reiten, tut es hier interessanterweise selbst: Es bestimmt „Rechtsoffenheit“ rein funktional und verunglimpft gleichzeitig die, die Substanzielles dazu zu sagen haben.

In dem zitierten Papier gibt es noch viele andere Ungereimtheiten. Zum Beispiel die, dass es zwar „Rechtsoffenheit“ im Titel hat, sich aber zunächst ausführlich über „neue(n) und neuartige(n) Protestbewegungen“ auslässt. Zu fragen wäre, warum sich eine Bewegung, die sich „Friedensbewegung“ nennt, seinerzeit nicht der bereits existierenden Friedensbewegung angeschlossen hat. Diente das schöne Wort „Frieden“ nicht eher dazu, dem Unbehagen von Menschen, die von den aktuellen Krisen auf die Straße getrieben wurden, einen gewissen Glanz zu verleihen und unter dieser Tünche „Faschismus, Antisemitismus, Rassismus, nationalistische, völkische Überlegenheitsideologien und dämonisierende Feindbilder“ verbreiten zu können, auch wenn diese Dinge laut dem Papier „in der Friedensbewegung nichts zu suchen“ haben? 

Einen Höhepunkt seiner ganz speziellen Argumentation erreicht das Papier aber dort, wo es „neue Kreationen im Arsenal der Kampfbegriffe“ identifiziert: „Verschwörungstheorie bzw. -ideologie, Wissenschaftsfeindlichkeit, Irrationalismus und Esoterik. (…). Man findet sie millionenfach in der Gesellschaft. Ein Beispiel: In den programmatischen Schriften von Christen, Juden und Muslimen – Bibel, Koran, Thora sowie den Edikten ihrer Päpste, Oberrabbiner und Imame – wimmelt es nur so von Irrationalismus und Esoterik.“ Besser kann man nicht sagen, dass man Akteuren, denen an kritischem Denken ihrer Anhänger*innen nicht gelegen ist, nach dem Mund reden will. Die Bücher der Religionen bestehen aus Legenden, historischen Beschreibungen, Glaubenssätzen und Erklärungen von Phänomenen entsprechend dem Wissensstand der Entstehungszeit dieser Bücher. Diese Erklärungen sind vorwissenschaftlich. Verschwörungstheorien dagegen sind unwissenschaftlich. Wenn wir beide gleichsetzen, landen wir bei Wissenschaftsfeindlichkeit und letztlich bei der Behauptung, wissenschaftliche Erkenntnisse seien ja auch nur Meinungen – ebenfalls seit 2014/15 ein beliebtes Motiv.    

Unter dem Punkt „Praktische Konsequenzen“ findet sich in dem Papier dann einiges, was sinnvoll ist, mit den vorangegangenen Abschnitten des Textes aber kaum zusammenpasst: „die Friedensbewegung darf sich nicht instrumentalisieren lassen“, „die Friedensbewegung muss stets unabhängig sein und ihr eigenes Profil immer deutlich herausstellen“ u.ä. Welche Friedensbewegung? Die diffuse, die das Papier beschreibt? Jedenfalls bringt das Papier am Schluss noch einmal die emotionalsten Elemente seiner Rhetorik in Stellung: „in geradezu geheimdienstlicher Manier vermeintlich verdächtigen Kontakten“ nachspüren, „Klima des Verdachts und der Denunziation“, „was nicht die – wie immer definierte – reine Lehre ist“, „sektenhafte Selbstisolierung von den Realitäten unserer Gesellschaft“. Sie richten sich gegen Kritiker*innen. Vermutlich sind sie dem erklärten Bestreben, „breitere Kreise der Gesellschaft, die jüngere Generation und die bitter notwendige politische Wirkung (zu) erreichen“, im Weg. Dass dieser Weg in die Übernahme durch Rechts führt, glauben die Autor*innen wohl durch ständige Überprüfung von Erfahrungen und „Korrekturen“ von „Strategie und Taktik“ verhindern zu können. Dabei müssten sie selbst den Realitäten ins Auge sehen: Gerade bei der politisch aktiven jüngeren Generation ist die Friedensbewegung seit 2014/15 hinreichend diskreditiert, eben wegen ihrer kaum reflektierten Rechtsoffenheit.  

Und ganz nebenbei: Warum eigentlich nicht „Kampfbegriff“ Rechtsoffenheit? Ist doch völlig in Ordnung. Rechte Einflüsse auf die Friedensbewegung müssen bekämpft werden.